Todesstoß oder heilsamer Schock?

Die Coronakrise und die EU

Book Cover: Todesstoß oder heilsamer Schock?

Es war eine Nahtod-Erfahrung der besonderen Art. Fast zwei Monate lang, von Ende März bis Ende Mai 2020, lag die Europäische Union wegen der Corona-Pandemie am Boden, die Brüsseler Institutionen mussten künstlich beatmet werden. Es war die Zeit, in der die Schengen-Grenzen geschlossen und die medizinischen Hilfsgüter gehortet wurden. Es war die Stunde der Exekutive, also der Nationalstaaten - denn die EU verfügt nicht über eigene Gesundheitsämter, Krankenhäuser und Notverordnungen, mit denen das öffentliche Leben heruntergefahren wurde. Sie verfügt nicht einmal über nennenswerte Kompetenzen in der Gesundheitspolitik. Doch diese existentielle Krise wurde ebenso wenig aufgearbeitet wie die Finanzkrise, die Eurokrise oder die Flüchtlingskrise. 

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(Vorwort zur 2. Auflage)

Als dieses E-Book im September 2020 erstmals erschien, hatte die Europäische Union gerade die erste Welle der Corona-Pandemie hinter sich. Das Leben hatte sich normalisiert, das europäische Versagen bei der Beschaffung von Masken und Schutzkleidung war vergessen oder verdrängt - und die 27 Staats- und Regierungschefs hatten sich unter deutschem Vorsitz auf einen „Recovery Fund“ geeinigt, den viele als „historisch“ bezeichneten.

Die EU hatte den gefürchteten „Todesstoß“ im Frühjahr 2020 nicht nur halbwegs überstanden. Sie schien sogar gestärkt aus der Coronakrise hervorzugehen. Vieles sprach dafür, dass die ersten sechs Monate einen heilsamen Schock ausgelöst hatten. Die EU-Kommission kümmerte sich um die Beschaffung von Corona-Impfstoffen und bereitete sich darauf vor, den Grundstein für eine (bisher fehlende) „Gesundheitsunion“ zu legen.

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Weitere sechs Monate später ist die Krise wieder da, schlimmer als zuvor. Ein Jahr nach Beginn der Pandemie wird Europa von einer dritten Welle heimgesucht. Die Impfkampagne, die Kommissionschefin von der Leyen als „Europas Moment“ gefeiert hatte, war im März 2021 immer noch nicht richtig in Gang gekommen. Die EU hinkt weit hinter Israel, den USA und sogar ihrem früheren Mitglied Großbritannien her, die „Recovery“ lässt auf sich warten.

Nun sind auch die Zeitungen voll von Berichten über das Versagen der EU. Die Literatur über die kleinen und großen Fehler der Europäer ist kaum noch zu überschauen; wir haben diesem E-Book daher ein Quellenverzeichnis hinzugefügt. Neu in der 2. Auflage sind zudem ein Kapitel über die Impfstoff-Beschaffung und die Gesundheitsunion sowie ein weiteres über die deutsche Rolle in der Krise. Ansonsten haben wir kaum Änderungen vorgenommen.

Denn die Analysen haben sich als zutreffend erwiesen. Fast alles ist noch aktuell. Die sanitäre Krise ist ebenso wenig gelöst wie die politische oder die wirtschaftliche. Wie vor einem Jahr streitet die EU erneut über unterlassene Hilfeleistung. Statt um Schutzkleidung für Italien geht es diesmal umImpfstoffe für Südosteuropa. Und wie vor einem Jahr fehlt das Geld - die vereinbarten Hilfsmilliarden aus dem „Recovery Fund“ lassen auf sich warten.

Dagegen hat sich das Umfeld, in dem die EU agiert, radikal verändert. Die USA haben eine neue Regierung, die nicht nur schneller impft, sondern auch massive Konjunkturprogramme auflegt, gegen die die EU-Pläne nicht mehr so „historisch“ wirken. Und Großbritannien hält dem „alten Europa“ den Spiegel vor. Die Briten haben nicht nur den Brexit überstanden. Sie könnten auch noch besser aus der Krise kommen als Deutsche oder Franzosen.

Keine schönen Aussichten - aber auch kein Grund zu verzweifeln. Denn ähnlich wie in den USA stehen auch in der EU Wahlen ins Haus. Bei der Bundestagswahl in Deutschland und bei der Präsidentschaftswahl in Frankreich im Mai 2022 können die Bürger (auch) für einen anderen Kurs gegen die Pandemie und ihre Folgen stimmen. US-Präsident Joe Biden hat gezeigt, welch großen Unterschied eine neue Führung machen kann…

 

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